Über die Risiken und Nebenwirkungen der Königsdisziplin „Annehmen“
Von Christa Elberfeld, München – langjährige Seelsorgerin und Workshop-Begleiterin beim ERF und GB-Mitglied.
„Darum nehmt einander an, gleichwie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes!“ So
schreibt Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom (Römer 15,7). Um diese gegenseitige
Annahme ringen wir auch heute immer wieder. In unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft
genauso, wie in unseren Gemeinden. Toleranz ist zum vielzitierten Schlagwort geworden, gerade weil
wir Streit, Ausgrenzung und Spaltung vermeiden wollen.
Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, was die Aufforderung des Apostels eigentlich konkret
bedeutet:
Nehmt einander an …
Für mich findet Annehmen nicht mit dem Verstand statt, sondern im Herzen. Angenommen fühle ich
mich, wenn ich so sein darf, wie ich eben bin, mit all meinen Schwächen und Stärken. Wenn in
meinem Fall zum Beispiel mein Rollstuhl nur eine von vielen verschiedenen Facetten an mir ist. Er
gehört zu mir und ehrlich interessierte Fragen dazu sind mir immer willkommen. Denn annehmen
kann man nur, was man kennt und versteht.
Aber mein Handicap ist nicht alles, was mich ausmacht. Genauso wie etwa mein Nachbar aus Eritrea
sich wohl kaum auf seine Hautfarbe reduziert wissen möchte.
Wirklich angenommen fühle ich mich, wenn mein Gegenüber auch meine Fähigkeiten und
Charakterzüge wahrnimmt, schätzt und bei Bedarf gern freundlich kritisiert. Wenn er oder sie mir
hilft das, was ich gut kann, zu nutzen und das, was ich (noch?) nicht kann zu verbessern oder wo
nötig auszugleichen. Angenommen fühle ich mich da, wo ich das Gefühl habe, dass verschiedene
Menschen einander ergänzen und ich meinen Teil zur Gemeinschaft beitragen kann. Wo ich
gefordert werde, ohne mich überfordert zu fühlen.
Um jemanden so annehmen zu können, gehört es unbedingt dazu, miteinander zu reden: zu fragen,
was dem anderen wichtig ist, was er möchte oder braucht. Wortloses verstehen kann auch ein
Zeichen der Annahme sein, ist aber eher selten.
… wie Christus euch angenommen hat …
Jesus hat es vorgemacht. ER, der als Gottessohn ganz genau „wusste was im Menschen war“
(Johannes 2,25), vergewisserte sich trotzdem oft zuerst, was sein Gegenüber überhaupt von ihm
wollte. Zum Beispiel fragte er einen Blinden: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lukas 18,41) oder
einen Gelähmtem: „Willst du gesund werden?“ (Johannes 5,6), bevor er die beiden heilte.
Jesus nahm den Menschen ihre Eigenverantwortung somit nicht ab, sondern förderte sie, ohne dabei
aus den Augen zu verlieren, was die Einzelnen gerade nötig hatten. So wusste er beispielsweise
genau, dass der Gelähmte aus Matthäus 9,2 eine ungetrübte Beziehung zu Gott dringender brauchte
als seine körperliche Heilung.
Mir persönlich geht es da übrigens ganz ähnlich. Ich bin nicht sicher, ob ich unbedingt körperlich
geheilt werden wollte, wenn Jesus mich danach fragen würde. Denn gerade, weil meine eigenen
Möglichkeiten so begrenzt sind, ist mir umso deutlicher bewusst, wie sehr ich Jesus brauche und wie
dankbar ich IHM sein kann. Für die Kraft, die er mir jeden Tag neu schenkt und nicht zuletzt auch für
die vielen lieben Freunde und Helfer, die ER mir als Unterstützung im Alltag zur Seite stellt. Dass ich
sie alle sehr schätze, sage ich ihnen persönlich gerne und regelmäßig.
Einander wertzuschätzen und zu achten ist also wirklich wichtig. Besonders für uns Christen, die wir
das Licht Jesu in die Welt tragen und seine Liebe erfahrbar machen sollen (vgl. Matthäus 5,14;
Johannes 15,12 u.a.).
… zu Gottes Ehre!
Aber Paulus schreibt im Römerbrief nicht nur, dass wir uns gegenseitig annehmen sollen. Er sagt
auch, wir sollen es zur Ehre Gottes tun!
So wie Jesus es getan hat und dabei stets den Vater verherrlichte! Jesus hatte Tischgemeinschaft mit
den Minderheiten seiner Gesellschaft und berief mit Matthäus sogar einen verachteten Zöllner in
den Kreis seiner engsten Nachfolger. Selbst diejenigen, die ihm nicht folgen wollten, hatte er lieb. Das
zeigt das Beispiel vom reichen Jüngling sehr deutlich (vgl. Matthäus 19,16-30 par.). Auch wir dürfen
und sollen unser Mitmenschen weiter lieben und annehmen, auch wenn sie (vorerst?) nicht für das
Evangelium offen sind. Denn ihre Herzen erreichen kann ohnehin nur der Heilige Geist.
Jesus liebte und liebt bedingungslos. Er respektiert unsere Entscheidung für oder gegen ihn, aber er
akzeptiert durchaus nicht alles, was wir tun. Er heilte den Gelähmten und vergab der Ehebrecherin
gern. Aber gleichzeitig ermahnte er beide, künftig nicht mehr zu sündigen (vgl. Johannes 5,14; 8,11).
Jemanden anzunehmen heißt also nicht automatisch, ihm nach dem Munde zu reden und alles
kritiklos hinzunehmen. Denn es geht nicht darum, es allen Menschen recht zu machen, sondern im
rechten Verhältnis mit Gott zu leben. Es geht nicht um unsere Beliebtheit, sondern um SEINE Ehre.
Deshalb schreibt Paulus in seinem Brief an die Galater: „Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott
zuliebe? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre
ich Christi Knecht nicht.“ (Galater 1,10)
Die Frage, die Paulus hier stellt, ist heute noch genauso aktuell, wie vor 2000 Jahren!
Wem wollen wir gefallen? Den Menschen, mit ihrem Streben nach Anerkennung, Akzeptanz und
Selbstverwirklichung? Oder Gott, dem wir alles verdanken, was wir überhaupt sind und je erreichen
können?
Wenn wir den Menschen gefallen wollen, dann machen wir aus Jesus dem Gottessohn nur noch
Jesus den weisen Lehrer. Dann wird aus dem göttlichen Erlöser ein menschlicher Reformer, dessen
Idealen wir bestenfalls nacheifern oder dessen Scheitern wir schlimmstenfalls bedauern.
Wenn wir den Menschen gefallen wollen, dann basteln wir uns das Evangelium so zurecht, wie sie es
von uns hören wollen. Dann passen wir die Verkündigung dem aktuellen Zeitgeist an, anstatt uns
vom Heiligen Geist in Wahrheit leiten zu lassen.
Auf diese Weise wird irgendwann jede Meinung gleich (also in gleicher Weise) gültig und damit wird
letztlich alles gleichgültig (also eigentlich egal). Die Folge von solch falsch verstandener Toleranz ist
leider zunehmende Orientierungslosigkeit…
Wenn wir dagegen Gott gefallen und IHN ehren wollen, zählt nicht was die Menschen von uns halten,
ob sie uns mögen oder nicht. Wenn wir Gott gefallen wollen, dann zählt nur unser Glaube an Christus
und sein Wort! Denn es gibt kein anderes Evangelium als nur dieses eine von Jesus Christus (vgl.
Galater 1,6-9).
Mit SEINEM Leben und Sterben und SEINER Auferstehung steht und fällt unser Glaube. Jesus selbst
sagt von sich: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater als nur
durch mich!“ (Johannes 14,6).
Auch wenn diese Botschaft in modernen Ohren manchmal unbequem klingt, sind wir als Christen
doch aufgerufen, sie wieder und wieder zu verkündigen, wenn wir treue Nachfolger und „Knechte
Jesu Christi“ in der Welt sein wollen. Den Weg zum ewigen Leben und zur Gemeinschaft mit Gott
aufzuzeigen, das sind wir unseren Mitmenschen schuldig. Gerade weil wir sie annehmen und
wertschätzen wollen.