Das Wagnis, ein Einzelner zu sein!

Vom Breiten und dem Schmalen Weg

»Die 12 Geschworenen«, so lautet der Titel eines alten Filmklassikers aus dem Jahr 1957. Schon die erste Fassung dieses Gerichtsdramas ist legendär. Mir wird Henry Fonda in der Hauptrolle unvergessen bleiben. Der Film gilt bei Soziologen und Psychologen bis heute als Musterbeispiel des Verhaltens eines Einzelnen innerhalb einer Gruppe.

Die Handlung ist schnell erzählt: Ein 18-jähriger Junge aus einem Einwanderer-Ghetto wird angeklagt, seinen Vater in einem Streit erstochen zu haben. Seit seiner frühesten Jugend wird der Junge von seinem Vater geschlagen. Vor Gericht scheinen die Beweise eindeutig zu sein. Der Aufwand des Pflichtverteidigers bleibt deshalb bescheiden. Zunächst sind 11 Geschworene fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Nur der Geschworene Nr. 8 hat berechtigte Zweifel. Da der Richterin ein einstimmiger Beschluss vorgelegt werden muss, folgt an diesem laut Wettervorhersage »heißesten Tag des Jahres« eine lange und dramatische Diskussion.

Da der Richterin ein einstimmiger Beschluss vorgelegt werden unterschiedlich sind, kommt es unter den Geschworenen zu Spannungen und Angriffen. Dem Geschworenen Nr. 8 gelingt es in einer zermürbenden Sitzung mit viel Beharrlichkeit, Logik, Redekunst und Einfühlungsvermögen, die anderen auf seine Seite zu bringen. Die Beobachtungen der beiden Hauptzeugen erweisen sich mehr und mehr als zweifelhaft. Jedes Indiz wird entkräftet. Schließlich wird der Junge von allen 12 Geschworenen für unschuldig erklärt. Ein überraschendes Ende, das sich freilich im Laufe des Films Stück für Stück anbahnt.

Ein wirklich beeindruckender Film. Und alles beginnt damit, dass ein Einzelner sich nicht der erdrückenden Mehrheit beugt. In einer neuen Fassung (1997) gespielt von Jack Lemmon, zeigt der Geschworene Nr. 8 ebenso Rückgrat. Er weiß sich allein seinem Gewissen verpflichtet. Er versteckt sich nicht hinter Mehrheitsmeinungen. Er überlässt die Suche nach der Wahrheit nicht dem Vordergründigen. Mit Zivilcourage ausgestattet, überzeugt er einen um den anderen. Das ist kein leichter Weg. Doch die Mühe sich zu investieren, lohnt sich. Am Ende ist die anfängliche Abstimmung der Geschworenen auf den Kopf gestellt. Das Leben einen Unschuldigen wird gerettet. Die »12 Geschworenen« – ein großartiger Film um einen beeindruckenden Einzelnen.

Der Einzelne bei Sören Kierkegaard

Mein Lieblingsphilosoph Sören Kierkegaard stellt den Gedanken des »Einzelnen« in die Mitte seiner Schriftstellerei: »Die Rede (mit Rede meint Kierkegaard das eigene Gewissen, das mich anspricht) fragt dich also, ob du derart lebst, dass du dir bewusst bist, ein Einzelner zu sein. … es ist eine ernsthafte Frage, nach dem, was jeder Mensch nach seiner ewigen Bestimmung ist, wessen er sich bewusst sein soll, dass er es ist, und wann denn wohl ernsthafter, als wenn er vor Gott sein Leben bedenkt. … Es kann behaglicher und bequemer und feiger sein, sich dergestalt unter der Menge zu verstecken, in der Hoffnung, Gott könne den einen nicht vom andern unterscheiden: aber in der Ewigkeit wird jeder als Einzelner Rechenschaft ablegen.«

Kierkegaard hätte seine Freude an dem Geschworenen Nr. 8 gehabt. Weil er es hasste, wenn Menschen sich hinter anderen versteckten, wie Adam es im Paradiesgarten hinter den Gebüschen tat. Es ist notwendig ein Einzelner zu werden, meint der Kopenhagener, weil der Mensch sonst nicht zu seiner Bestimmung durchstößt. Schon heute soll er so leben, wie er es vor Gott in der Ewigkeit tun wird: Vor Gott gibt es nur Einzelne. Vor Gott lässt es sich nicht verstecken. Nur als Einzelne stehen wir vor ihm – und das allein. Das ist menschliche Bestimmung.

Das ehrt den Menschen und zugleich macht es ihn für das eigene Leben verantwortlich. Das heißt ja verantwortlich – Antwort geben. Vor der Instanz der Ewigkeit wird Rechenschaft gefordert. Dort gibt es kein Verstecken mehr. Darum, so Kierkegaards Logik, soll heute schon so gelebt werden.

Flagge zeigen

Selbst wer Kierkegaard beipflichtet, wer beeindruckt ist von dem Geschworenen, der seiner Bestimmung folgt: Es ist schwer, ein solch Einzelner zu sein! Weil aus der Masse aufzutauchen bedeutet, sich angreifbar zu machen. Weil aus der Gruppe herauszutreten, immer ein Risiko bedeutet. Weil den schmalen Weg zu gehen hindernisreich ist. Der breite Weg hingegen einem einfacher und beschwerdefreier erscheint. Alle ehren die Zivilcourage, doch wenige zeigen Flagge. Es ist schwer ein Einzelner zu sein.

Doch nicht weil es schwer ist, ist es damit auch falsch. Einzelne können aus Minderheiten-Positionen heraus großen Einfluss bekommen. Das zeigt der Film eindrücklich, es zeigt die Person Sören Kierkegaards und vieler weiter Einzelner. Es braucht sie, die das Besondere tun und dem vor ihnen Liegendem nicht ausweichen. Dem eigenen Gewissen verpflichtet und ihm Fall des Abrahams in der Bibel, dem Ruf Gottes auch folgen.

Als Jesus sich in der Bergpredigt mit den Vorstellungen und Überzeugungen von Mehrheiten auseinanderzusetzen hatte, prägte er den Satz: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: … Ich aber sage euch, … «. Jesus hat sich nicht verhalten, wie es Mehrheiten von ihm erwartet haben. Er stellte Anti-Thesen zum Üblichen auf. Das war nicht nur mutig, anstößig und schwer für ihn. Es tat auch weh. Es waren innerliche Schmerzen bei ihm, äußere kamen am Ende seines 30-jährigen Lebens hinzu. Jesus war Einzelner, wie es kein Mensch sein kann. Das lag daran, was ihn einzigartig macht: Seine Nähe zu seinem Vater im Himmel. Nach seinem Auferstehen aus dem Tod, nannten sie ihn deshalb den Sohn Gottes. Er war es, der zu uns spricht: Ich aber sage euch, … (Matthäus 5,21ff.).

Pastor Frank Mader (Mössingen)

Das Bild oben stammt von Christiane Jordan: Mutiger, einzelner Baum auf dem „Kampfplatz Davids“ in Jerusalem.

1 Kommentar zu „Das Wagnis, ein Einzelner zu sein!“

  1. Dr. Sieghard Dienlin

    Lieber Bruder Mader,
    vielen Dank für Ihren Beitrag in Bibel live, er hat mich sehr zum Nachdenken angeregt.
    Die Antithesen der Bergpredigt werden als solche bezeichnet, da sie anscheinend der Tora widersprechen. Gegen was oder wen sind die Antithesen gerichtet? Ich kann bei bestem Willen nichts im AT finden, dem Jesus widerspricht. Das kann auch nicht sein, denn vor den Antithesen sagt Jesus um allen Missverständnissen zuvorzukommen, dass er gekommen ist das Gesetz zu erfüllen und dass kein Jota vom Gesetz gestrichen werden soll. Julius Wellhausen, protestantischer Theologe und Bibelforscher: Alles, was in der Bergpredigt steht, kann man im Talmud wiederfinden. Siehe hierzu auch Pfarrer Paul Billerbeck in „Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch“. Laut Pinchas Lapide, jüdischer Religionswissenschaftler, profunder Kenner des NT, hoch geschätzt für den christlich jüdischen Dialog: Eine jüdische Bergpredigt lässt sich aus dem AT erarbeiten ohne ein einziges Jesuswort zu benötigen.
    Wie konnte es dann zu dem irreführenden Begriff Antithesen = Gegenthesen kommen? Eine Antwort könnte sein, dass uns das NT nicht in der Sprache Jesu vorliegt, sondern in Griechisch: egō dé légō hymin ; das dé muss nicht mit »aber« übersetzt werden. Es kann auch mit „und“, „also“, „weiterhin“, … verdeutscht werden: und ich sage euch. Hier ist sogar laut Pinchas Lapide eine Rückübersetzung ins Hebräische möglich: „wa ani omär lachäm“. Es handelt sich um eine Formulierung aus dem Grundvokabular der rabbinischen Rhetorik, womit eine andere Auslegungsvariante eingeleitet wird.
    Pinchas Lapide: Jesus liefert uns, Gott sei Dank, keine Antithesen, sondern Superthesen, die die Bibelgebote vertiefen, verschärfen und, im wörtlichen Sinne, radikalisieren, das heißt: auf ihre Wurzel und ursprüngliche Absicht zurückführen.
    Wenn man die Bibel nur aus sich selbst heraus auslegt, kommt man auf diese überraschende und erhellende Erklärung nicht.

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